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.Dann nahm er Sattel und Zaumzeug, schwang sie sich auf die Schultern und ging zu den Pferden.Als wir kurze Zeit später aufbrachen, hörten wir die Vögel singen.Ein tiefes Karminrot färbte die Hänge, Quellwolken glühten.Ich blickte zu dem Ring der Eisberge empor, golden im Frühlicht; weit, weit in der Ferne lag, wie die blaue Mündung eines Flusses, das windgepeitschte tibetische Hochtal.42353.KapitelWir hatten den Weg quer durch die Hügel genommen und den Militärposten Tingri hinter uns gelassen.Schnurgerade verlief die Straße nach Lhasa.Die Sonne blinkte auf den Windschutzscheiben der Lastwagen, Busse und Militärjeeps, die Staubfahnen hinter sich herzogen.In den Lastwagen saßen chinesische Soldaten.Gruppen von Arbeitern – tibetische Männer und Frauen – bauten Stützmauern, besserten Schlag- und Wasserlöcher aus.Sie bewegten sich wie Schemen.Ihre Gesichter und ihre Kleider waren ebenso weiß gepudert wie die Landschaft.»Straßenbaubrigaden«, sagte Atan.»Ihre Arbeit nimmt nie ein Ende.Der Asphalt platzt bei jedem Regenguß.«Wir ritten über die schmalen Pfade, die Generationen von Lasttieren an den Berghang gegraben hatten.Krähen segelten über uns im Tiefflug.Hier oben war der abgeholzte Berg fast kahl; er war zum Reich der Schatten, der Einsamkeit geworden.Die Erosion hatte brutale Spuren hinterlassen.Spalten und Rillen gruben sich tief.Oft sah es aus, als habe der Berg, in tausend Stücke zersprungen, seine Splitter in weitem Umkreis verstreut.Über flache Lehmhäuser wehte Rauch, blau wie Kornblumen, auf den Dächern stapelten sich Gestrüpp und Wurzeln als Brennholz.Die Chinesen schlugen die Berge kahl, aber die Straße entlang pflanzten sie Bäume an und schichteten um jeden Baum eine Mauer auf, zum Schutz vor Ziegen oder Yaks.Die Touristen wollten Bäume sehen, das hatten auch die Behörden begriffen.Vereinzelte Pappeln standen schief im Wind, die letzten Blätter der Birken schimmerten wie blasser Honig.Magere Esel grasten am Rande der Felder.Oft trafen wir kleine Steinhügel, auf denen Gebetsfahnen wehten.Die Sonne hatte sie ausgebleicht, der Wind zerschlissen.Nie unterließen wir es, einen Stein aufzulegen, um die Berggeister zu ehren.Hier und da wuchsen die Ruinen alter Klöster aus der Erde.Die Rotgardisten hatten die goldenen Statuen geschmolzen, das Holz aus den Mauern gezogen, mit Hammer und Spitzenhacke jede Burg dem Erdboden gleichgemacht.Die Luft war von Leid getränkt.Aus kalten Tiefen emporsteigend, auf den Schwingen des Windes getragen, schwärmten Totengeister über die Ruinenfelder.Im Dunkeln meines Herzens hörte ich ihre Schreie und fröstelte.Eine eiserne Hängebrücke überquerte den Kyutschu, seinen 424ausgeschwemmten Talgrund.Das lehmigbraune Wasser schäumte.Und jenseits der Hügel lag Lhasa.In meiner Erinnerung, in meinen Träumen, flimmerten unscharfe Bilder.Wann hatte ich diese Dinge gesehen? Als ich ein Kind war?Früher? Jeder Mensch trägt solche Traumstücke in sich, Bilder aus einer entfernten Vergangenheit, aus dem Gedächtnis der Ahnen.Sicherlich waren diese Bilder den Erzählungen meiner Eltern nachempfunden; kaum etwas in Tibet kam mir wirklich fremd vor.Es gibt eine Schwelle in uns, jenseits derer das, was wir heute sind, ihren Ursprung nimmt.Zu diesem Ursprung kehrte ich jetzt zurück.Zu meiner Kindheit, zu den Vorfahren, zu Chodonla.Durchsichtig und weit glänzte der Himmel; vereinzelte Wolken glitten über die Hügel, bleifarbenen Walen gleich, die im Blau des Himmels wie in einem Ozean schwebten, nach Lhasa.Den Potala hatte ich auf Tausenden von Abbildungen gesehen.Doch auch in meinem Herzen hatte ich sein Bild bewahrt.Und genau so erblickte ich ihn jetzt in seiner Größe, seiner Harmonie.Und darüber das Eis in den Höhen mit dem Leuchten von reiner Helle und unbegreiflicher Macht.War es das Licht der Sonne oder die blaue Luft, oder formte ich selbst ein Bild, das meiner Erinnerung entsprach? Oder mischte ich alles, diesen Augenblick, meine Geschichte? Der Palast hatte seine Seele eingebüßt, seinen Atem verloren, er war nur noch ein Museum, von Touristen besucht, und für jedes Foto mußte gezahlt werden.Die Mönche lebten in Armut, die Behörden kassierten das Geld.Tibets Götter lebten im Exil, fernab auf den Berggipfeln, weit weg vom Geschrei der Menschen.Unter dem Potala lag die Stadt, von Verkehrsströmen und Lärm erfüllt; Reihen neu erbauter Wohnblöcke, mit Rauhputz versehen, Fenster wie leere Höhlen, Schrottplätze, Fabriken, bläuliche Wolken aus Abgasen und Ruß.Das maßlos Zerstörerische dieser erstickenden Häßlichkeit hatte ich geahnt; sie traf mich trotzdem wie ein Schlag ins Gesicht.Manchmal erkannte ich Blickpunkte, an denen ich, schien mir, schon einmal gewesen war.Aber alles blieb voneinander getrennt, auseinandergerissen.Als ob ich von Orten träumte, an denen ich schon gewesen zu sein glaubte, und die es in Wirklichkeit nicht gab.Hier also lebst du, Chodonla.Du plauderst und trinkst mit deinen Peinigern, du lieferst dich ihrer Gier aus, du spuckst Blut.Du bist eine Heldin.Ich weiß kaum etwas von dir, Chodonla.Ich sehe dich nur in Atans Augen.Wer bist du? Auch die Kraft des Erinnerns läßt nach, die Umrisse werden unsicher.Es wird 425seltsam sein, dir zu begegnen, mich selbst in dir wie in einem Spiegel zu sehen.Vielleicht sind wir jetzt zu verschieden? Zwei Fremde nur, die ungeschickte Worte tauschen, fast gleichzeitig, leise, eine nie geübte Wechselrede: »Bist du es, Chodonla? Bist du es wirklich?« – »Ja, ich bin es.Ich erkenne dich: du bist Tara.Du hättest nicht kommen sollen.Warum bist du hier?« – »Ich bin Ärztin, Chodonla, ich will dir helfen.« – »Du kannst mir nicht helfen.Laß mich, es ist zu spät.«Die Wirklichkeit rückte näher.Und die Häßlichkeit.Sie kam von außen, sie hatte sich dieses Ortes bemächtigt: Überall wurde gebaggert; Lhasa widerhallte vom Bohren und Hämmern, vom Hupen, Surren, Klirren und Scheppern.Auf einem kahlen Platz prangte als Dekoration eine alte, verrostete Mig.Zeitgenössische Kunst, dachte ich höhnisch.Die Mode war chinesisch: Kniestrümpfe aus Nylon, Schuhe aus Plastik, Mützen der amerikanischen Rapper, verkehrt herum getragen und made in Hongkong.Chinesische Spielsalons.Chinesische Kneipen.Chinesische Restaurants.Ein chinesisches Theater, ein chinesisches Kino.Dies war jetzt eine chinesische Stadt.Die Stimmen waren sehr laut; Chinesisch ist eine Sprache, die geschrien wird.Wir wurden einbezogen in das pausenlose Kommen und Gehen, in das Dröhnen und Tosen und Geschrei.Lhasa liegt in 3770 Meter Höhe und stank entsetzlich.Und darüber der Himmel, wolkenlos jetzt, ein Himmel aus blauem Kristall, schwindelerregend, atemberaubend, ewig.Wir führten unsere Reittiere am Zügel.Wir fielen nicht auf; wir waren Pilger.Die Zahl der Pilger ging in die Tausende.Die meisten waren Nomaden, vorwiegend alte Männer und Frauen.Manche konnten sich kaum noch dahinschleppen.Ihre braungebrannten Gesichter glänzten wie staubiges Kupfer.Schwester ihrer Not, teilte ich ihre Sehnsucht zu der Vergangenheit, ihre verzweifelte Liebe zu einer neu aufgebauten Stadt, die im Sterben lag…Atan führte mich in eine Herberge; er ließ mich allein, während er die Pferde versorgte.Er wußte, bei wem er sie unterbringen konnte.Wie vorauszusehen, war Chodonla zu dieser Zeit schon im Amy.Er wollte ihr mitteilen, daß ich da war.»Schonend«, hatte ich gesagt.Er hatte unfroh gelächelt.»Ich verstehe schon.«Er ging, und ich blieb allein in einer Zelle ohne Fenster, mit billigen Rollbildern geschmückt.Die Staubschicht auf dem 426Lehmboden war frisch gefegt worden.Im Zimmer standen zwei Bettgestelle aus Eisen, ein wackeliger Tisch, zwei Stühle, ein Messingkrug, eine giftgrüne Plastikschale und zwei Becher
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